Morgens fällt einem das Aufstehen schwer, weil man Abends nicht den Weg ins Bett findet. Im Halbschlaf schlurft man widerwillig vom Schlafzimmer ins Bad. Beim Anziehen fragt man sich, wieso man sich das eigentlich täglich antut um dann anschließend mit Bauchschmerzen zur Arbeit zu fahren, immer in der Hoffnung nicht in einen dieser werktäglich berufsverkehrbedingten endlos Staus zu geraten, um dann auf dem letzten Drücker auf der Arbeit zu erscheinen. In der Firma ziehen sie nicht nur wie kleine Kinder an ihrer Erzieherin, sondern man zerrt an deinen Nerven, lässt dich noch nicht einmal in Ruhe beim Mittagessen und du merkst, wie deine Laune und Motivation bereits zur Tageshalbzeit den Gefrierpunkt stark unterschritten hat. Mit dem Feierabend triffst du auf der Autobahn all die Leidensgenossen, die schon gemeinsam mit dir am Morgen in der Gegenrichtung im Stau standen und du fällst am Abend nur noch müde auf die Couch und wirst nach den Tagesthemen wach. Jetzt noch schnell Klamotten für den nächsten Tag in der Tretmühle rausgelegt, das Brot für die Tortour im Hamsterrad gemacht und dann liegst du mit offenen Augen im Bett, obwohl du doch schlafen musst. Du sagst es dir immer wieder, Augen zu und schlafen, aber deine Nerven sagen nein. Nachts, in den Träumen stehen deine Mitarbeiter an deinem Bett, zerren an deiner Decke und belagern die mit den unmöglichsten Wünschen. Am Morgen holt dich der Radiowecker unsanft aus dem Schlaf und der Albtraum eines jeden Tages beginnt von Neuem.
Deine Wohnung ein Chaos, das du nur noch verwaltest, aber schon lange nicht mehr beherrscht. Jeden Tag aufs Neue beschwörst du dich, dass du endlich den Arsch hoch bekommen musst. Küche, Bad, Wohnzimmer, Schlafzimmer – am Ende schaffst du es gerade einmal den Staubsauger rauszuholen und halbherzig die Wohnung von der Armee der Wollmäuse und Staubflocken zu befreien. Ende, fertig, der Rest muss warten…
Und da ist diese Oase, wo du dich fallen lassen kannst. Diese Oase heißt Mutter. Ab Freitag nachmittag breche für zweieinhalb Tage aus meinen Trott aus. Freitags geht es zum Einkaufen Samstags ist oft Kultur angesagt und Sonntags Couching. Runterkommen und einfach mal durchschnaufen. Wäre da nicht die Sorge um die Mutter, die vor einem Jahr einen Schlaganfall hatte und seit dem Probleme nicht nur mit Zahlen, sondern auch mit dem Autofahren hat. Sie traut sich nicht mehr hinter das Steuer, hat nun selber sogar einen Rollator, weil die Beine nicht mehr so richtig wollen. Das Rauchen hat sie aufgegeben und damit sie sich nicht auch selber aufgibt, packe ich sie ins Auto und mache den Animateur. Das ist wichtig, denn Ihre Welt besteht nur noch aus den TV Soaps. Sei es Rote Rosen oder Sturm der Liebe, Alles was zählt oder gute Zeiten, schlechte Zeiten – in allen Serien ist sie daheim. Gut, ich bin in Sachen Animateur auch nicht gerade einfallsreich. Mondpalast, Musical, Ehrlich Brother oder Konzerte. Man muss genau hinhören, denn sie äußert ihre Wünsche nicht direkt. Mehr versteckt und dann heißt es für mich, klemm dich an den Computer und mach das Beste daraus. Früher sind wir gerne zum Friedhof gefahren, weil dort ihr Mann liegt, doch heute fällt ihr der Weg vom Auto bis zum Gräberfeld schon schwer. Wenn Kirmes in Bottrop ist, müssen wir alle paar Meter eine Pause einlegen, weil ihre Knochen nicht mehr wollen. Über 30 Jahre Altenpflege fordern ihren Tribut. Tja, auch wenn man nicht alt sein muss, wenn der Körper nicht mehr kann, dann ist Schluss mit lustig. Egal, ob du nun im Rentenalter bist oder weit davon entfernt.
Meine Mutter hatte Glück im Unglück mit ihrem Schlaganfall. Es hätte sie noch schlimmer treffen können und seit dieser Zeit ist mir bewusst, dass die Zeit mit meiner Mutter kostbar ist. Egal ob meine Wohnung im Chaos versinkt, egal wie dick der Staub liegt, jetzt ist die Zeit da, wo meine Mutter mich braucht und ich gebe zu, ich sie auch ein wenig.
Früher hat sie mir geholfen beim Anziehen, heute gebe ich ihr hin und wieder Hilfestellung. So ist das im Leben… Alles wiederholt sich, halt nur mit anderen Vorzeichen.
Scheiß was drauf – um Deutsch zu reden – dass ich mit meinem Roman nicht weiterkomme, ich meine Fernsehsendung nicht sehen kann und stattdessen Pilcher schaue. Irgendwann kommt die Zeit, wo ich es vermissen werde.
Ach ja, meine Mutter hat mir meinen kleinen japanischen Hybriden gekauft. Sie meinte, der Ford muss fort, bevor er mir die Haare vom Kopf frisst. Ganz spontan, so wie ich es in letzter Zeit predigte sind wir ins Autohaus und haben Nägel mit Köpfen gemacht. Früher hätte es das nicht gegeben, aber meine Mutter gibt zu, sie lässt sich gerne mit dem Hybriden durch die Gegend fahren, denn er ist bequemer als ihre kleine koreanische Reisschüssel. Der ist nun mein Zweitwagen und Winterauto.
Ja und ich selber Zweifel weiter an mir. Jeden Monat packe ich Geld bei, nur um Arbeiten zu gehen. Der Verschleiß, der Sprit und die Zeit die ich auf der Straße liegen steht in keinem Verhältnis zu dem Ertrag. Ich weiß, ich habe viele Leidensgenossen, aber muss das so sein. Von meinen Träumen habe ich mich längst verabschiedet, arbeite nur noch um meinen Alltag und Leben zu bestreiten. Jeden Tag fluche ich am Telefon, wenn ich mit meiner Mutter rede, sie hört und meint immer, ändere was. Klar, ich kann vieles bewegen, aber auch meine Zeit wird allmählich knapp. Das hört sich jetzt lachhaft an, denn ich bin 46, aber bei uns in der Familie werden Schlaganfälle gerne weiter vererbt. Mein Vater hatte vor Jahren ein, meine Mutter letztes Jahr, mein Uropa ist daran verstorben und meine Oma ebenfalls. Also bin ich ein Kandidat dafür. Als Disponent bin ich dann noch Anwärter für einen Herzinfarkt, aber das interessiert eh keinen. Nein, wir ziehen weiter an ihm herum, zerren an seine Nerven, denn er hat ja breites Kreuz und ein dickes Fell.
Das muss ich leider verneinen. Früher ja, heute nicht mehr. Leider.
Deswegen haben meine Mutter und ich inzwischen auch ein Ritual eingeführt. Immer wenn wir uns trennen, bevor wir beim telefonieren das Gespräch beenden, kommt zum Abschied der Satz: Hdl – Hab dich lieb! Heute habe ich die Gelegenheit dazu, später vielleicht nicht mehr und dann bereue ich es, diese drei Wörter nicht gesagt zu haben…
Wann haben Sie das letzte Mal einem lieben Menschen diese drei Worte gesagt? Lieber spät als nie…